Schach der Konserve! Erinnerungen an die Genese von Zenita Komads Operation Capablanca
von Gerald Matt
Der reiche Mieter … holte sein Schachspiel aus der Tasche des verachteten Anzugs heraus, nahm ungeniert Platz und gewann eine Blitzpartie gegen sich selbst. ‚Wenn Sie der Capablanca wären‘, schrie er sich heftig an, ‚hätt’ ich Sie schon sechsmal geschlagen, in derselben Zeit! Bei uns in Europa nennt man das Freßschach! Gehen Sie betteln mit Ihrer Nase! Sie glauben, ich fürcht’ mich. Eins, zwei, und Sie sind kaputt. Sie Amerikaner! Sie Paralytiker!‘.
—Elias Canetti *
Schon der Eröffnungszug war unorthodox. Die drei KuratorInnen, die mit ihren „Blicken von außen“ die Wiener Kunstszene vor Ort durchleuchtet hatten, um eine Auswahl an KünstlerInnen für die Ausstellung Lebt und arbeitet in Wien II zu treffen, waren schon längst wieder in New York, Tokio und Warschau gelandet. Sie hatten dorthin drei Figuren mitgenommen, die in der Vor-Selektionskiste verblieben waren, weil eine Einigung, welche von diesen drei Einzug in die Kunsthallen-Schau erhalten solle, noch nicht getroffen worden war. Etliche E-Mails verkehrten zwischen Asien, Europa und Amerika, bis die Entscheidung fiel: Zenita Komad ist mit von der Partie! Das kam überraschend, denn hätte es eine Altersgrenze nach unten gegeben (die KuratorInnen hatten immerhin eine nach oben festgelegt: 40 – bis auf eine Ausnahme), wäre die damals erst 25-jährige Künstlerin wohl kaum zum Zug gekommen. Dieser Zug aber sollte das kommende „Ausstellungsspiel“ in unerwartete Dynamik versetzen. Denn Zenita kam nicht mit jenen Bildern, Objekten und Installationen daher, die wir den KuratorInnen in Diskettenform auf deren Heimflüge mitgegeben hatten, sondern mit der Inszenierung einer Schachoper. Schachoper? Als dilettierender – wenn auch leidenschaftlicher – Schachspieler fiel mir zu diesem Stichwort nur Paul Charles Morphy ein, der 1858 während einer Aufführung des Barbier von Sevilla eine brillante Partie gegen den Herzog Karl von Braunschweig und seinen Berater, den Grafen Isouard, hingelegt hatte.
Um dieses Trio sollte es hier aber nicht gehen, sondern, wie Zenita verheißungsvoll ankündigte, um die 1933 in Los Angeles ausgetragene (und nicht minder berühmte) Partie zwischen José Raoul Capablanca und Hermann Steiner. Viel mehr allerdings konnte – oder wollte? – mir die Künstlerin damals, nur wenige Monate vor der Ausstellungseröffnung, nicht verraten. Es durfte also mit einem „Work in progress“ gerechnet werden, wie wir es als Ausstellungsmacher theoretisch zwar lieben, in der Praxis aber mit Argusaugen beobachten müssen, muss doch in Hinblick auf die Umsetzung – nicht zuletzt auch im Rahmen der budgetären Lage – im Vorfeld alles konzis geplant sein. Und Opern zählen nicht gerade zu den niedrigpreisigen Produktionen im Kulturbetrieb.
In diesem Fall aber war mir klar: Zenita Komad ist nicht allein Zenita Komad, sie ist der Knotenpunkt eines Netzwerks höchst profilierter wie auch ambitionierter Menschen, und dieses Netzwerk heißt Zenita City. „Zenita City“, sagt Zenita, „beherbergt Seelen- und Herzensfreunde, Freaks, Denker, Erleuchtete, Wortspezialisten und Gedankendoktoren, Freudenspender, Luftschlossbauer, Witzerfinder, Lachmuskelmasseure, Gesamtkunstwerker und viele mehr – und nicht zu vergessen: Zenita City ist ursprünglich aus Liebien und Nettland.“ (1) Mithilfe dieses Zaubervolkes, sagte ich mir, wird sie, dessen prima magistra, auch ein Schachspiel meistern, zu dessen Beginn nicht 32 Figuren am Brett stehen, sondern bestenfalls ein paar Bauern. Von diesen hatte sie nämlich schon einige angefertigt: etwa ein Meter große Objekte, deren Form unschwer als die von umgedrehten Keuschheitsgürteln zu erkennen war.
Zug um Zug traten im Vorspiel zur Operation Capablanca, wie die Schachoper heißen sollte, auch endlich die „realen“ Figuren auf: zuerst Großmeister Lothar Schmid, der vom Weltschachbund FIDE gerade zum Schachschiedsrichter des Jahrhunderts gewählt worden war und 1972, während der heißesten Zeit des Kalten Kriegs, den Weltmeisterschaftswettkampf zwischen Spasski (UdSSR) und Fischer (USA) so diplomatisch zu lenken verstanden hatte, dass die Kontrahenten das Turnier bis zum Ende durchfochten trotz mehrfacher Abbruch-Drohungen. Lothar Schmid war der Librettist der Schachoper, er hatte die Capablanca-Steiner-Partie von 1933 ausgesucht, deren Züge kommentiert – und die Abfolge von Zug-Ansagen (in internationaler Notation) und ihrer Kommentare bildeten den Text, der gesungen, gesprochen, vollzogen werden sollte.
Von wem? Wie es sich schon bestätigt hatte, ist Zenita City ein Treffpunkt großer Persönlichkeiten: Maria Harpner, vortreffliche Sopranistin, sollte als weiße Dame „ihren zwischen Sprache, schrillem Schrei und Gesang wechselnden Part bravourös bewältigen“ (2), während „einer der ganz Großen des Deutschen Sprechtheaters“ (3), Burg-Schauspieler Ignaz Kirchner, als schwarzer König sprachlos, doch mit große Würde, die Rolle des Verlierers übernehmen sollte. So ging es weiter im „Who is who“ der exquisiten Musik- und Theaterszene: Bernhard Lang und Nadir Gottberg besorgten das Kompositorische, Herbert Klapfer saß am Klavier und Johannes Reichert absolvierte als Countertenor – jener seltenen Spezies von Sängern, seit es keine Kastraten mehr gibt – brillant den Prolog, der die Legende des Schachspiels erzählte. Durch ihn erfuhren wir, dass Shihiram, der Erfinder des Schachspiels, der schwarze – verlierende – König ist, da sein Wunsch nach Belohnung nicht erfüllt werden konnte.
Allein mit der Oper war es für Zenita nicht getan. „L’eches, c’est moi!“ hatte sie auf eines ihre Bilder dieser Zeit geschrieben, und das bedeutete soviel wie: Schach für alle! Zu einer der zahlreichen Ouvertüren ihrer opera, die, wie wir später hören sollten, „Macht und Ohnmacht des menschlichen Seins“ thematisierte, (4) wurden Schach spielende Künstler- und KuratorInnen wie Christian Ludwig Attersee, Erwin Wurm, Ingried Brugger und meine Wenigkeit samt Berater Ernst Strouhal zum Wettkampf gegen die mit verbundenen Augen spielende Großmeisterin Regina Pokorna aufgefordert (wir nahmen das von ihr angebotene Remis letztlich dankbar an); in den Räumlichkeiten des „Video Space“ fand unter der Regie des Schach- und Wissenschaftsjournalisten Stefan Löffler ein Großmeister-Turnier mit internationaler Besetzung statt; und draußen, in dem von bürokratisch unterwürfigen Obrigkeiten zum „verbotenen Hof“ erklärten Museumsquartier, wurden ungeachtet dessen Blitzschach-Turniere der Zuseher mit den Professionalisten ausgetragen. Drinnen, in der Ausstellungshalle, gab es überdies ein hochkarätig besetztes Symposium zum Thema „Spieltheorie“. Das konnte bereits auf Zenitas Tag für Tag mit jeweils einem Feld bestückten Schachbrett im Ausmaß von 8 x 8 Metern stattfinden.
Für die Schachoper Operation Capablanca gab es jedoch keine Premiere. Die Uraufführung war die Uraufführung. Zenita hatte vieles, aber bewusst nicht alles choreographiert: „Die geheime Strategie ist wohl, die richtigen Leute zu finden und zu begeistern. Ich hatte eine fabelhafte Besetzung und ein insgesamt fantastisches Team. Der Rest ist harte Arbeit, Durchhaltevermögen und das strikte Ablehnen von Zweifeln.“ (5) Und so ist denn auch Zenitas Work in progress „bis zum schließlichen Liebes-Matt auf den Feldern B4/C5 vom Wiener Publikum bei der Erstaufführung des Singspiels begeistert gefeiert worden“. (6)
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*) Aus: Elias Canetti, Die Blendung, Zweiter Teil. Wien: Herbert Reichner Verlag 1935 (Frankfurt a. M., Fischer Taschenbuch Verlag 1995)
1) Interview mit Zenita Komad, in: Gerald Matt, Interviews II, Verlag Walther König, Köln 2008, S. 144
2) Peter Vujica, „Das Schachbrett als Kunstfaktor“, in: Der Standard, 3./4. 9. 2005
3) Kulturministerin Claudia Schmied bei der Verleihung des Titels „Kammerschauspieler” an Ignaz Kirchner am 16. 4. 2008 in Wien
4) Johann Werfring, „Kunst trifft Schach in Wien“, in: Wiener Zeitung, 27. 8. 2005
5) s. Anm. 1, S. 143
6) Lothar Schmidt, Eloge, 2006, in: www.zenita-city.at/texte/text11.html