Kleider machen Leute

von Margarita Thurn

Vestis virum reddit. Die zeitlose Redewendung, dessen deutsche Übersetzung „Kleider machen Leute“ noch heute gebräuchlich ist, wurde schon zu Zeiten des römischen Rhetorikers Quintilian als Lebensregel gelehrt. Gemeint ist damit die Konstruktion und Definition der eigenen Identität durch die Kleidung. Als visuelles Vokabular reichert die Bekleidung den Körper nach außen hin mit Bedeutung an und baut seine Identität innerhalb eines sozialen Umfeldes auf. Dieses Sprichwort ist auch für die jüngsten Arbeiten von Zenita Komad, in denen Leinwände mit Kleidungsstücken angezogen werden, einsetzbar.

Ein einfärbiges rosa Faltenkleid, durch das Label Jacadi eindeutig als Kindermode erkennbar gemacht, bekleidet die Leinwand. Der Bildträger wird zum Körper, dessen nackte obere Hälfte zwischen den Trägern des Gewandes herausschaut. Unter dem Kleid hängen die Beine heraus, angezogen mit ebenfalls rosa Nadelstreif-Hosen und Schuhen, die eher an männliche Kleidung erinnern und in ihrer Unstimmigkeit eine befremdende Wirkung haben.

Vergleichbar mit den Malschichten eines Gemäldes wird das Bild durch mehrere Kleidungsstücke angezogen, wodurch der Prozess der Bildentstehung dem Vorgang des sich Bekleidens gegenübergestellt wird.

Zenita Komad hat mit dem Jacadi-Kleid ein weiteres raumgreifendes Bild geschaffen, dem sie Leben eingehaucht und eine eigene Persönlichkeit gegeben hat. Es ist eine weitere phantastisch märchenhafte Figur, die, zusammen mit den anderen Kreationen und installativen Gebilden, die Welt ihrer Vorstellungskraft bewohnt. In Gestalt eines kleinen Mädchens, das ein Bild von Unschuld und Naivität von sich gibt, muss dieses sich zwischen all den anderen Charakteren und den allwissenden Zitaten behaupten. Man kann sich gut vorstellen, wie sich die verschiedenen Kreaturen in der Nacht verselbständigen und, sobald sie alleine gelassen werden und alles dunkel ist, miteinander sprechen. Dabei dreht sich alles um die Kleine – die Älteren und Weiseren reden ihr gut und gewissenhaft zu, Louise Bourgeois sorgt sich mit großmütterlicher Zärtlichkeit um sie und gibt ihr Weisheiten mit, während Maria Callas von den Sternstunden der Menschheit erzählt und flüsternd die Geheimnisse des Lebens preisgibt.

Noch ist es ein unschuldiges, unverdorbenes Mädchen, zugleich aber auch eine Projektionsfläche von Wünschen und Hoffnungen der Erwachsenenwelt.

Die zarte Pastellfarbe spiegelt zunächst das Ideal des Kindes, seine Unschuld und Reinheit wider, aber ein zweiter Blick verrückt die anfänglichen Gefühle der Makellosigkeit und Zärtlichkeit. Angesichts der überdimensionalen Körpergröße und der eindringlichen Präsenz verliert das kindliche Abbild an Anmut und Lieblichkeit. Durch die Verkehrung von Groß und Klein schlüpft der Betrachter selber in die Rolle des Unterlegenen.

Schließlich macht sich der unfertige Zustand des Kleides bemerkbar – das Kleid ist an der unteren Hälfte nicht fertig bemalt und somit unvollkommen, als würde damit auf eine Schattenseite hingedeutet werden.

Auch die Hängung an die Wand bringt Gefühle des Unbehagens. Das kindliche Wesen wird ungefragt hoch auf die Wand gehängt, wodurch ihm der Boden unter den Füßen genommen wird und es einer ohnmächtigen Marionette gleicht. So werden die leblos hängenden Beine zum entscheidenden Element, welches aus dem bezaubernden rosa Mädchen ein unbeholfenes Geschöpf macht, das grausam vor den Augen des Betrachters vom Kleid verschlungen wird. Vielleicht ist es eine Anspielung auf die Folgen der Eitelkeit, für die wir büßen müssen. Das Kleid führt ein Eigenleben und verschluckt den Sünder, bis sein Inneres ganz erstickt wird. Dante hätte keine bessere Strafe finden können.

Entfernt man sich von abergläubischen und religiösen Herangehensweisen, stößt man auf psychoanalytische Ansätze.

Die Kleidung ist als zweite Haut die Grenze zwischen physischem Körper und geistig-seelischem Dasein. Einerseits sagt sie einiges über die Person aus, denn „Kleider machen Leute“, und andererseits verhüllt sie. Beim menschlichen Grundbedürfnis der Selbstfindung wird sie zur Technik der Selbstvergewisserung und -inszenierung. Wie eine aufgesetzte Hülle konstruiert sie eine Identität und gibt ein bestimmtes Bild nach außen hin. Die Kleidung steht dabei im entferntesten Sinne stellvertretend für den gesamten erzieherischen Apparatus, der das Individuum durch Gebote und Verbote, durch Wert- und Normvorstellungen sowie moralische Überzeugungen seit seiner Kindheit in seiner Persönlichkeitsbildung prägt. Diese konstruierte Instanz legt sich wie ein deckendes Gewand um das gesamte seelische Innenleben und verdrängt die inneren Bedürfnisse, Begehren, Intuitionen und Gefühle.

Diese Zwiespältigkeit zwischen Innen und Außen, Schein und Sein entzweit die Individuen schon seit dem zarten Alter der Kindheit. Die Kinderseele – oder das kleine Männchen, das in uns lebt – wird durch Schichten an Konstruktionen und Überbauten vergraben, bis alle kindlichen Bewusstseins- und Gefühlsinhalte in das Unbewusste rutschen.

Hebt man das Jacadi-Kleid hoch, so kommt das besagte Männchen zum Vorschein, aber da man das nicht tut, bleibt es für immer verborgen.

So wird uns das tragisch zum Opfer gefallene Ich in Form eines hingehaltenen Mahnmals als Beispiel vor Augen geführt.

Mein Kind, es sind allhier die Dinge, / Gleichwohl, ob große, ob geringe, / Im wesentlichen so verpackt, / Daß man sie nicht wie Nüsse knackt. Wie wolltest du dich unterwinden, / Kurzweg die Menschen zu ergründen. / Du kennst sie nur von außenwärts. / Du siehst die Weste, nicht das Herz. Wilhelm Busch, Schein und Sein