Geborgenheit des Fragens. Zenita Komads Orakel und sein Umfeld.
von Meinhard Rauchensteiner
In einem seiner berühmt gewordenen, heute aber so gut wie unbekannten Essays schreibt Georg Lukacs: „Ein Spiel ist das Drama; ein Spiel vom Menschen und vom Schicksal; ein Spiel, wo Gott der Zuschauer ist. Zuschauer ist er nur, und nie mischt sich sein Wort oder seine Gebärde in die Worte oder Gebärden der Spielenden.“ Es ist klar, Lukacs redet von der Tragödie, von jener als Kunstform wie von jener allgemeinen, die jeder Erkenntnis des abwesenden Gottes, des deus absconditus innewohnt. Sie quält die Gläubigen und begleitet die Agnostiker gleichermaßen. Sie ist die gesündeste, weil am wenigsten enthusiastische und am meisten fragende Form des Glaubens wie Nichtglaubens.
Und wenn wir festhalten: In das Spiel vom Menschen mischt Gott sich nicht ein. Das Spiel selbst aber ist ein Spiegel des menschlichen Daseins. Ist das Spiel per se daher gottlos? Ist Gott ein Kiebitz? Man möchte sagen: ja. Zenita Komad sagt: nein. Sie sagt das nicht überstürzt und nicht unvorbereitet. Eines ihrer wunderbaren großen Schriftbilder lautet beinahe: „Gott ist Nichts“ – Nur hat sie zwischen das Sein – in der verzeitlichten Form des „ist“ – und das Nichts in anderer Farbe noch einmal „nicht“ hineingeschrieben. Also: „Gott ist nicht Nichts“ – Das mag auf den ersten Blick banal erscheinen. Aber nicht umsonst ist die Banalität der Heldenmut des zu flüchtigen Blicks. Denn bald erkennt man den Charakter des Zwischenrufs. Es mischt sich wer ein. Nur wer? Die Künstlerin? Naja, das wäre ebenso evident wie neuerlich banal, sie hat’s ja schließlich hineingepinselt. Aber auf einer semiotischen Ebene bleibt die Frage weiterhin unbeantwortet. Vielmehr scheint es nämlich, als hätte es da einen Zwischenruf von irgendwoher gegeben, ja, als hätte Gott selbst sich da kurz hineingeschrieben auf die Gefahr hin, des Stotterns bezichtigt zu werden („nicht Nichts“). Aber ist es nicht gerade das Stottern, das die geregelten Abläufe durchbricht, das Regelwerk der Grammatik zum Kippen bringt und daher, als Durchbrechen der Gesetzmäßigkeit, als Wunder – und sei es eben eines der Syntax – gelten kann? Deleuze, glaube ich, hat es beschrieben, das Stottern. Und Lukacs schreibt: „Vor Gott hat aber nur das Wunder Wirklichkeit.“ Also: Wenn schon nicht der Einwurf von Gott selbst zu stammen scheint, dann bewirkt er doch zumindest sprachlich das Eine: Dass etwas vor Gott wirklich ist. Das Wunder, das Wunder des Stotterns: Doch eben Wunder. Und Einwurf. Das ist auch nicht nichts.
Wie dem auch sei, im Einwurf tritt der Andere auf in diesem Drama, und der Andere ist immer fremd. Der Fremde. Leben, also das „Spiel vom Menschen“, bedeutet immer mit dem Anderen zu tun zu haben. So tritt der Gegner auf, den warmherzige Menschen gerne als „Partner“ bezeichnen, weil Euphemismen eben bestens angetan sind, den Charakter des Spielens zu unterstreichen. In Wahrheit sind Spiele Schlachten und Brettspiele Schlachtfelder. Ob nun der kleine Erzherzog Franz Joseph Zinnsoldaten verschob oder sich zwei Rechtsanwälte im Café Central den Kopf darüber zerbrachen, wie beim Schach die Dame des Anderen aus dem Spiel genommen werden kann, im Grunde besteht der einzige Unterschied darin, dass dies eine Spiel in der Niederlage von Solferino endete, jenes andere im ganz privatimen Alkoholismus. – Doch mit solchen Überlegungen schweift man beinahe ab. Beinahe nur, denn Komads Arbeiten widmen sich über Jahre hindurch immer wieder dem Thema Spiel, interpretieren, modifizieren Spiele in installativer oder theatralischer Form. Wie etwa die Schachoper, zu der Bernhard Lang die Musik schrieb, und die mit Ignaz Kirchner (unter anderen) im Museumsquartier aufgeführt wurde. Und was, wenn nicht das „Königsspiel“ kann als Abbild der Gesellschaft, des menschlichen Lebens dienen? Mag heute auch der Bauer zum Springer werden können, nur allzuoft merken wir, dass seine Rösselsprünge Sprünge eines Bauern sind. Operation Capablanca nannte Komad ihre Schachoper, in Würdigung des kubanischen Schachprofis und Diplomaten (wieso verwundert diese Kombination jetzt nicht?) José Raúl Capablanca.
Abbild des Lebens war auch das Labyrinth, das Komad 2010 in Mumbai realisierte. Wohlgemerkt ein Labyrinth, dessen Unterschied zum Irrgarten darin besteht, dass dieser dem, wie der Name schon sagt, Verirren dient, jenes aber unweigerlich zum Ziel führt. Auf verschlungenen Wegen eben; auch so wieder ganz Abbild des Lebens. Gegenbild zum Irrgarten und als solches ihm so verhaftet, wie eben Gegenteile einander immer sind. Sie bilden ein Paar: Verzweiflung und Hoffnung, Freiheit und Schicksal, das Sichverlieren und das Sichfinden. Paradoxien stehen hier an der Schwelle, wie jenes „Retten durch Vernichten“, das Simone Weil in ihre Tagebücher notierte.
Erkennbar aber bleibt, dass die raumgreifenden Installationen von Zenita Komad den Weg vom freien Spiel, gleichsam vom Zufall über das Geschick (nicht im Heidegger’schen Sinne, sondern eben als Geschicklichkeit, als Können) Richtung Schicksal nehmen. Zusätzlich wand sich durch Komads Labyrinth ein roter Faden; oder genauer gesagt, er war mit dem Labyrinth koextensiv. Jede Mauer war rot gehöht. Unausweichlichkeit im Modell. Als wäre alles in einem Buch des Lebens bereits verzeichnet. In einem Buch, das die Hybris des Menschen immer wieder zu entziffern verlangt. Folgerichtig endet diese Hybris beim Orakel. Dieses kündet von der Unausweichlichkeit und verhöhnt die vergeblichen Anstrengungen, dem Schicksal zu entrinnen. Das Orakel aber ist die Zeit des Epos, über die Lukacs die berühmten Sätze schrieb: „Selig sind die Zeiten, in denen der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt.“ Diese Gleichung des Oben und Unten, die in gewandelter Form wieder durch die Tabula Smaragdina wirkmächtig wurde, setzt Zenita Komad in ihrem Halma-Orakel künstlerisch um. Am Weg dorthin findet man Schriftbilder Komads mit dem Text „Schuld ist Scheiße“ oder „Sei frei von Wünschen“. Fast scheint es so, als wäre hier eine Suche an ihr Ende gelangt. Aber eben nur fast. Denn solches Suchen endet tendenziell im Weitersuchen. Und das ist gut so.
Was aber suchen wir? Das Glück? Die Liebe? Gott? Der Weg von Zenita Komad ist in dieser Hinsicht beachtlich. Von „Religion is dangerous“ (2005) über das bereits zitierte „Gott ist (nicht) Nichts“ bis zu „In the beginning was (not) simplicity“(2010) durchzeichnet, durchmalt sie eine Region, die von der Verneinung alles Religiösen bis zum Tohuwabohu der Bibel, also bis zum Buch Bereschit reicht. Dass am Anfang keine Einfachheit herrschte, sondern „Irrsal und Wirrsal“, wie Rosenzweig/Buber „tohu wabohu“ übersetzen, wird in dieser letztgenannten Arbeit ebenfalls als Spiel getarnt: als Sandspielen in der Sandkiste. In Wahrheit handelt es sich aber um eine „Beziehungskiste“, in deren Einfassung Namen berühmter Liebender geritzt wurden: Romeo und Julia, Tristan und Isolde oder Pyramus und Thisbe. Es lebe die Liebe. Oder, um es mit einem weiteren Schriftbild Komads zu sagen: „Wissen ist eine höchst komplizierte Sache. Liebe auch!“ (2005). Ja, ein Spiel ist die Tragödie. Und die Tragödie auch wieder nur Spiel. Das klingt sehr nach Unausweichlichkeit. Aber nur scheinbar.
Der Zweifel aber, die Frage und das Suchen sind geblieben. Das Schriftbild „Daddy, I Miss You“ aus dem Jahr 2010 hat seine Gültigkeit nicht verloren, denn die Suche nach dem Vater, das Vermissen, kann ebenso real und schmerzhaft wie emotional und spirituell (das wollte ich jetzt eigentlich nicht schreiben, weil’s ein bisserl abgelutscht ist; doch hier wohl zutreffend) sein. Seit je nämlich sind Väter doch die großen Abwesenden. Wer da ist, kann kaum Vater sein. Vater ist der deus absconditus, der Verborgene. Ihm gilt die Suche. Aber, kann der leben, auf den der Blick Gottes gefallen ist? – schreibt ebenfalls Lukacs. Die Antwort ist klar. Bleibt die Suche.
Nichts desto weniger wirkt der durchschrittene Weg Komads evident. Vom Schachspiel über das Labyrinth zum Orakel in Form eines Halma-Spieles, just jenes Spieles also, dessen maßgebliche Formen Dreiecke und Kreise sind. Dass das Halma-Brett einen Davidstern bildet, der wiederum auf die Verbindung von Mensch und Gott hinweist, ist angesichts des Komad’schen Marathons (um gleich auch was Griechisches einzufügen) wesentlich kein Zufall. Kreise – Zeichen der Vollkommenheit – und Dreiecke. Wechselweise werden sie kulturhistorisch ineinander eingeschrieben: der Kreis ins Dreieck, dieses in jenen. Und immer werden sie als Symbole des Menschlichen wie Göttlichen, des Himmlischen wie Irdischen gedeutet. Und scheinen in die allzumenschliche Irrsal und Wirrsal Ordnung zu bringen. Sicherheit.
Allzumenschlich? Nietzsche schreibt in seiner Rolle als Prinz Vogelfrei etwas, was Komad als dessen Prinzessin zu erkennen gibt:
„Seit ich des Suchens müde ward, Erlernte ich das Finden.
Seit mir ein Wind hielt Widerpart, Segl’ ich mit allen Winden.“
Auch tief im Finden steckt das Suchen. Aus ihm entspringt jene Kreativität, die auch den offensichtlich evidenten Weg von Zenita Komads Arbeiten zum Fragespiel werden lässt. Mit Gott als Zuschauer.